Ist die nächtliche Ausgangssperre in Lippe verfassungsgemäß?
Rechtsanwalt und Notar Marc-Daniel Volk äußert sich zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der nächtlichen Ausgangssperre
(Hierbei handelt es sich um die juristische Auffassung des Verfassers. Wir weisen darauf hin, dass vielfältige juristische Meinungen zu diesem Thema möglich sind und die Rechtsprechung eine gänzlich andere Auffassung vertreten kann.)
Die Infektionen mit dem Coronavirus nehmen zu und der Kreis Lippe ist besonders betroffen. In einigen Kommunen des Kreises liegen die 7-Tages-Inzidenzwerte bei über 600 / 100.000 Einwohner. Klar ist daher, dass effektive Maßnahmen nötig sind, um die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu bringen.
Seit einigen Tagen gilt in Lippe als eine der Maßnahmen eine nächtliche Ausgangssperre. In der Allgemeinverfügung lautet es auszugsweise:
Der Aufenthalt außerhalb der häuslichen Unterkunft ist in der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr (Heiligabend/1. Weihnachtstag 1.00 bis 5.00 Uhr und Silvester/Neujahr von 3.00 bis 6.00 Uhr) grundsätzlich untersagt.
Ausnahmen von den in Satz 1 statuierten Verboten gelten nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe. Gewichtige Gründe sind insbesondere:
– Weg zur Schule, Arbeit, Kita, Arzt,
– Unterstützung Hilfsbedürftiger,
– Begleitung Sterbender,
– Handlungen zur Versorgung von Tieren.
Im Falle einer Kontrolle durch die Polizei oder die Ordnungsbehörden sind die gewichtigen Gründe glaubhaft zu machen.
Zu Recht stellen sich viele die Frage, ob eine solche Ausgangssperre mit unseren Freiheitsrechten noch vereinbar ist. Diese Frage soll an dieser Stelle juristisch näher beleuchtet werden.
Grds. hat jedermann in Deutschland das Recht, sich in der Öffentlichkeit überall und jederzeit frei zu bewegen. Dieses Freiheitsrecht wird von der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Dieses Freiheitsrecht steht jedoch unter einem sogenannten einfachen Gesetzesvorbehalt, was bedeutet, dass dieses per Gesetz eingeschränkt werden kann, sofern der Eingriff in das Recht verhältnismäßig ist.
Nun ist die Allgemeinverfügung, welche nicht vom Parlament, sondern lediglich von der Kreisverwaltung (durch den Landrat) erlassen wird, kein Gesetz und wäre als solche grds. ungeeignet, eine Ausgangssperre anzuordnen. Allerdings sieht das Infektionsschutzgesetz in seiner aktuellen Fassung gerade eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage vor, von welcher die Kreisverwaltung Gebrauch gemacht hat.
Entscheidend ist daher die Frage, ob der mit der Ausgangssperre verbundene Eingriff in die Freiheitsrechte verfassungsmäßig gerechtfertigt, also verhältnismäßig, ist. Dies setzt voraus, dass dadurch ein legitimer Zweck verfolgt wird, zu dessen Erreichen die Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen ist.
Legitimer Zweck
Daran, dass durch die Ausgangssperre ein legitimer Zweck – nämlich die Verlangsamung der Ausbreitung des Coronavirus – verfolgt wird, kann kein Zweifel bestehen.
Geeignetheit
Fraglicher ist dann schon, ob diese denn geeignet ist, um den legitimen Zweck zumindest zu fördern. Nach der Rechtsprechung liegt die Geeignetheit zumindest dann noch vor, wenn die Maßnahme nicht offensichtlich völlig ungeeignet ist.
Tatsächlich muss man an der Eignung der Ausgangssperre erhebliche Zweifel haben. Klar ist, dass sich das Coronavirus nachts nicht stärker ausbreitet, als dies auch tagsüber der Fall ist. Klar ist auch, dass durch einen Aufenthalt außerhalb der häuslichen Unterkunft nicht automatisch eine Infektionsgefahr entsteht. Dieser Aufenthalt muss ja nicht mit Kontakten zwischen Menschen verbunden sein. Wer nachts alleine (oder mit seiner Familie) auf der Straße oder ggf. im PKW unterwegs ist, hat offensichtlich keine höhere Infektionsgefahr, als auch zu Hause.
Nach der Begründung soll die Ausgangssperre vielmehr offenbar mittelbare Wirkung dadurch erzielen, dass Feiern und ähnliche Zusammenkünfte vermieden werden. Mit anderen Worten: Es soll den Menschen, die eine Feier besuchen, verwehrt werden, im Anschluss wieder nach Hause zurückkehren zu können, in der Erwartung, dass diese sich dann von der Feier fern halten.
Obgleich gerade die entsprechende Zielgruppe in der Konsequenz vielleicht einfach bis zum Morgen feiern wird und erst nach der Ausgangssperre in die eigene Wohnung zurückkehren wird (also auswärts übernachtet), werden sich ggf. noch manche Personen davon abhalten lassen, überhaupt erst auszugehen. Vor diesem Hintergrund ist die Maßnahme jedenfalls nicht offensichtlich völlig ungeeignet.
Erforderlichkeit
Die Maßnahme muss darüber hinaus erforderlich sein, was bedeutet, dass es zur Erreichung des legitimen Zwecks keine anderen, gleich geeigneten milderen Maßnahmen geben darf.
An dieser Stelle wird es m.E. für die Ausgangssperre schon sehr eng. Wenngleich die Ausgangssperre vielleicht noch geeignet ist, Zusammenkünfte von Personen (wie Feiern) zu reduzieren, dürfte dieses Ziel auch auf viel unmittelbarere Weise zu erreichen sein. Tatsächlich ist es nämlich so, dass die Kontaktbeschränkungen (derzeit maximal 5 Personen aus 2 Haushalten) sowohl in NRW, als auch im Kreisgebiet des Kreises Lippe grds. nicht innerhalb privater Wohnungen gelten. Ausnahmen davon sind in Lippe derzeit Kommunen, in denen der Inzidenzwert oberhalb von 350 liegt (aktuell Augustdorf, Lage und Horn-Bad Meinberg).
Wenn also private Zusammenkünfte verhindert werden sollen, dann wäre die unmittelbare Maßnahme, die Kontaktbeschränkungen auch auf private Räume anzuwenden, sicherlich deutlich effektiver, als durch eine mittelbare Maßnahme, wie die Ausgangssperre, zu versuchen, an sich legale Treffen in Privaträumen zu verhindern. Nach der derzeitigen Rechtslage wäre es in den Kommunen mit einem Inzidenzwert unter 350 nämlich sogar zulässig, dass sich dort eine größere Zahl von Menschen vor 22:00 Uhr träfe und dort dann zusammen bis nach 6:00 Uhr am nächsten Morgen verbliebe (während aber eine Heimkehr nach 22:00 Uhr unzulässig wäre). Dies kann, da mit der Dauer der Zusammenkunft das Infektionsrisiko steigt, also sogar kontraproduktiv sein.
Meiner Meinung nach fehlt der Ausgangssperre daher die Erforderlichkeit, da es andere, unmittelbar und weit effektiver greifende Maßnahmen zur Erreichung des beabsichtigten Ziels gäbe. Diese wären zudem auch milder, da sie nur die tatsächlich für das Infektionsgeschehen relevanten Handlungen beträfen, während z.B. der nächtliche Spaziergang durch die Innenstadt oder die Rückkehr nach Hause von einem zulässigen Treffen mit einem einzelnen weiteren Haushalt richtigerweise zulässig bliebe.
Angemessenheit
Neben der Erforderlichkeit fehlt es auch an der Angemessenheit der Maßnahme. Hierbei sind die jeweiligen Interessen gegeneinander abzuwägen. Obgleich auf den ersten Blick eine lediglich nächtliche Ausgangssperre für viele als „nicht so schlimm“ angesehen wird, muss man sich vergegenwärtigen, wie weit diese Einschränkung tatsächlich reicht. Etwas, das wir immer für selbstverständlich hielten, nämlich sich als unbescholtener Bürger jederzeit frei in der Öffentlichkeit bewegen zu dürfen, wird plötzlich unter Strafe gestellt. Das ist eine erhebliche Beschränkung der Freiheiten. Schon der Blick in die Geschichte zeigt, wie dies noch vor wenigen Monaten eingeordnet worden wäre! Angesichts des geringen Effekts, den eine solche Ausgangssperre auf das Infektionsgeschehen haben dürfte, halte ich diese für eklatant unverhältnismäßig.
Ergebnis
Im Ergebnis halte ich die derzeitige Ausgangsbeschränkung nicht mehr für verfassungskonform. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Gerichte diese wohl dennoch überwiegend „durchwinken“ werden. Noch vor einem Jahr wäre es, auch und gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte, schier unvorstellbar gewesen, dass die Politik eine Ausgangsbeschränkung anordnet und die Rechtsprechung eine solche auch noch bestätigt.
Unsere Geschichte hingegen sollte uns gelehrt haben, an die Frage der Erforderlichkeit von Freiheitsbeschränkungen immer strenge Anforderungen zu stellen. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch Politik und Rechtsprechung wieder besinnen werden und bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen auch im Zusammenhang mit Corona wieder genau abwägen, inwiefern von der konkreten Maßnahme auch eine tatsächliche Reduktion der Infektionsgefahr zu erwarten ist.